NWRI-
Einem Bericht der staatlichen Tageszeitung Shargh vom 13. September 2025 zufolge beschleunigt sich der finanzielle Zusammenbruch der iranischen Mittelschicht. Gebildete junge Menschen, viele mit mehreren Jobs, berichten, dass sie trotz zunehmender Arbeitsintensität in die Armut abrutschen. Einst konnten sie bescheidenen Wohlstand genießen – inklusive Reisen, Freizeit und kleinen Ersparnissen –, heute bezeichnen sie sich selbst als „arme Mittelschicht“, gefangen in einem Teufelskreis aus schwindenden Möglichkeiten und wachsender Angst.
Die verschwindende Mittelschicht
Die von Shargh gesammelten Zeugenaussagen zeichnen ein düsteres Bild des Niedergangs. Eine junge Frau, die in einem privaten Unternehmen arbeitet, erzählt, wie sich ihr Leben in nur wenigen Jahren verändert hat: „Wenn ich mich mit der Situation vor vier Jahren vergleiche, ist alles anders. Früher ging ich mehrmals pro Woche ins Restaurant, jetzt vielleicht einmal im Monat – und selbst dann kommt es mir zu teuer vor. Ich habe immer gute Hautpflegeprodukte gekauft, aber heute kann ich mir nicht einmal minderwertige leisten. Mein Gehalt ist von fünf auf dreißig Millionen Toman gestiegen, aber meine Tasche ist leerer denn je.“
Ihre Geschichte spiegelt einen breiteren Trend wider. Eine junge Buchhändlerin aus Teheran, die vor kurzem geheiratet hat, beschrieb, wie selbst die einfachsten Freuden unerreichbar geworden sind: „Wir dachten, wir könnten uns wenigstens eine Hochzeitsreise leisten. Wir haben Geschenke von unserer Hochzeit gespart, aber die Kosten stiegen immer weiter. Jetzt ist selbst ein Kurztrip in die Türkei unmöglich. Wir haben beide zwei Jobs, aber jeder Tag dreht sich nur noch ums Überleben. Wir stecken fest.“
Ein frisch verheiratetes Paar äußerte die gleiche Frustration. Obwohl beide Vollzeit arbeiten, gaben sie zu: „Wir verstehen nicht, wie unsere Gehälter so schnell verschwinden. Früher gingen wir gerne auswärts essen, aber das ist vorbei. Selbst ein kurzer Ausflug nach Kish Island hat uns für den Rest des Monats pleite gemacht. Jetzt ist unser Einkaufskorb auf das Nötigste geschrumpft – Snacks, Kaffee und alles Importierte gibt es nicht mehr. Die einfachsten Bedürfnisse des täglichen Lebens sind zu Sorgen geworden.“
Angst, Sorge und der Preis des Überlebens
Neben dem wirtschaftlichen Niedergang ist auch die psychische Belastung enorm. Viele beschrieben ihr Leben in ständiger Angst vor Armut. Ein junger Angestellter eines bekannten Molkereiunternehmens erklärte: „Ich verdiene mehr als früher, aber ich fühle mich ärmer. Früher habe ich Sprachkurse besucht, bin ins Fitnessstudio gegangen und habe mich mit Freunden in Cafés getroffen. Jetzt habe ich damit aufgehört, aber das Leben ist härter. Meine größte Angst ist, am Monatsende kein Geld mehr zu haben. Selbst wenn mein Laptop kaputtgeht, wäre ich ruiniert, weil ich nichts mehr zum Sparen habe.“
Psychologen bestätigen diese weit verbreitete Angst. Nasser Ghasemzadeh, ein von Shargh interviewter Experte für psychische Gesundheit , warnte: „Diese chronische Angst betrifft nicht nur Einzelpersonen, sie bedroht die Zukunft der Gesellschaft. Junge Menschen verschieben ihre Heirat und geben ihre Kinderpläne aus finanzieller Not auf. Wenn Menschen ihre grundlegendsten Bedürfnisse nicht befriedigen können, schwindet die Hoffnung. “
Strukturelle Ungleichheit und Regimevernachlässigung
Der regimenahe Ökonom Hossein Raghfar erklärte gegenüber Shargh, die Krise spiegele ein systemisches Versagen wider: „Junge Menschen sind heute nicht nur mit niedrigen Einkommen konfrontiert, sondern mit einer Form strukturierter Ungleichheit und einer systematischen Missachtung grundlegender Bürgerrechte.“ Er wies darauf hin, dass die Inflation außer Kontrolle geraten sei, und verwies auf einen Anstieg der Autopreise um 60 bis 70 Prozent innerhalb nur eines Monats.
Raghfar betonte, dass die Mittelschicht im Gegensatz zu Unternehmern, die ihre Preise anpassen können, nicht mit der Inflation Schritt halten kann. Daher „stehen sie unter ständigem wirtschaftlichem Druck, während die Ärmsten noch stärker leiden“. Er warnte außerdem, dass fast 26 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren weder studieren noch arbeiten oder eine Ausbildung absolvieren. „Diese Realität bringt eine Generation hervor, die anfällig für Frustration, Gewalt und Kriminalität ist. Die Wut der jungen Menschen richtet sich gegen die Entscheidungsträger, und sie machen diese zu Recht für ihr Elend verantwortlich.“
Eine Generation ohne Zukunft
Der Zusammenbruch der Erschwinglichkeit von Wohnraum ist das deutlichste Symbol der Verzweiflung. Raghfar erklärte: „Junge Menschen können sich heute nicht nur kein Haus leisten, sie können nicht einmal davon träumen, eins zu besitzen. Mit unsicheren Arbeitsplätzen, Inflation und fehlender wirtschaftlicher Sicherheit sehen sie keine Zukunft.“
Sogar Freizeitaktivitäten, einst zentral für das Leben der Mittelschicht, sind verschwunden. Ein junger Lehrer, der früher regelmäßig ins Ausland reiste, sagte: „Bis letztes Jahr war ich mehr als sieben Mal in der Türkei. Jetzt ist selbst die billigste Reise unmöglich. Unsere Gehälter sind höher, aber unsere Lebensqualität ist schlechter. Wir mussten sogar unsere Wohngemeinschaft aufgeben, weil die Miete unbezahlbar geworden ist.“
Zusammenbruch des Vertrauens und der sozialen Hoffnung
Die Zeugenaussagen zeigen mehr als nur individuelle Kämpfe – sie enthüllen einen Generationenzusammenbruch. Raghfar warnte: „Die Mittelschicht spielte einst eine aktive Rolle im öffentlichen Leben. Heute ist sie, erdrückt vom wirtschaftlichen Druck und überzeugt, keinen Einfluss zu haben, entpolitisiert. Sie sieht keine Anzeichen dafür, dass sich die Behörden um ihr Schicksal kümmern.“
Dieses Versagen hat weitreichende Folgen: Junge Iraner verlieren nicht nur den Glauben an ihre persönliche Zukunft, sondern auch an die Zukunft ihrer Gesellschaft. Ghasemzadeh betonte: „Ein junger Mensch, der in ständiger Angst vor Armut lebt, kann nicht für morgen planen. Diese chronische Angst ist nicht nur ein individuelles Problem – sie bedroht die Zukunft der gesamten Nation.“
Sharghs Bericht konzentriert sich ausschließlich auf die Mittelschicht. Die unteren Schichten der Gesellschaft sind noch schlechter dran und können ihre grundlegendsten Bedürfnisse nicht befriedigen. Dieser anhaltende Niedergang der Wirtschaft und die Ausbreitung der Armut sind durch die Korruption des Regimes gekennzeichnet. Das iranische Volk ist sich dessen voll bewusst, was sich in seinen täglichen Protesten im ganzen Land widerspiegelt. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Situation zu einem weiteren landesweiten Aufstand gegen das gesamte Regime eskaliert.