„Wegwerf-Agenten“
Wie Irans Geheimdienst ein Spionage-Netzwerk in Deutschland ausbaut
Von Amin Al MagrebiVolontär an der Axel Springer Academy
Collage
Überwacht, eingeschüchtert, rekrutiert
Durch Erpressung von Familienangehörigen in der Heimat bahnen sich Irans Geheimdienste einen Weg bis nach Deutschland – und ziehen Exil-Iraner wider ihren Willen in Komplizenschaft. WELT ist es gelungen, einen Fall zu rekonstruieren – und den verantwortlichen Agenten zu identifizieren.
Als Javid Navari in seiner Wohnung in Weimar die ersten WhatsApp-Nachrichten auf seinem Handy erhält, weiß er sofort, mit wem er es zu tun hat. „Ich habe gestern mit deinem Onkel gesprochen“, schreibt eine unbekannte Nummer mit iranischer Vorwahl. Sie gehört einem Mann, der sich als „Mahdi“ ausgibt, und der sich nicht weiter vorstellen muss. Navari weiß: Mit ihm schreibt ein Agent des iranischen Geheimdienstministeriums. Was er will, sind Informationen aus Deutschland.
„Mahdi“ stellt Navari eine Falle. Er will ihn dazu drängen, ihm geheimdienstliche Informationen zu übermitteln. Es ist eine Masche, mit der viele Exil-Iraner mittlerweile bestens vertraut sind. Denn der iranische Staat versucht immer aggressiver, mutmaßliche Oppositionelle im Ausland einzuschüchtern und Agenten anzuwerben.
WELT hat Betroffene getroffen und ein Dutzend solcher Anbahnungs-Versuche untersucht und verifiziert. Die Recherchebefunde deuten auf breit angelegte, niederschwellige Spionagestrategien hin. Betroffene berichten von einer beispiellosen Intensivierung. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bestätigt auf Anfrage: „Das Hinweisaufkommen ist in den letzten Jahren gestiegen und befindet sich aktuell auf einem konstant hohen Niveau.“
Durch die Falle in die Zwangskooperation
Noch kein Jahr ist vergangen, seit die Familie Navari Deutschland erreicht hat: zwei minderjährige Söhne und eine Mutter, die in der Heimat Architektin war und bis heute die Folterspuren einer früheren Festnahme trägt. Der 48-jährige Lehrer aus Schiraz beantragt Asyl in Weimar und hegt die Hoffnung, seine Familie aus den Klauen der Islamischen Republik befreit zu haben – bis „Mahdi“ in sein Leben tritt.
Spuren von Auspeitschungen und Schlägen an der Mutter der Familie Navari nach einer Verhaftung im IranQuelle: Screenshot WELT
„Mahdi” löchert Navari mit Fragen. Und er schickt ihm Fotos. Er will, dass Navari Menschen auf den Bildern identifiziert. Es sind Personen auf Demonstrationen in Deutschland und Europa. „Mahdi“ fragt, wie die Menschen auf den Kundgebungen heißen, wie Navari mit ihnen in Kontakt gekommen ist und wie oft er selbst an solchen oppositionellen Kundgebungen teilgenommen hat. Navari antwortet wie in einem Verhör: knapp, höflich, bedacht darauf, nie zu viel zu sagen.
Die ersten Drohungen von „Mahdi“ kaschiert der iranische Agent mit einem verständnisheuchelnden Unterton. Er wisse doch, dass Navari zu solchen Kundgebungen nur deswegen gehe, „um sein Asylverfahren in Deutschland voranzutreiben“. Es wirkt wie ein Angebot an den Exil-Iraner: Wir drücken ein Auge zu, wenn du uns Informationen lieferst.
Mit vorgetäuschter Fürsorglichkeit erinnert der Geheimdienstmann den Familienvater, dass sein Verbleib in Deutschland nicht sicher sei. Dass er womöglich irgendwann wieder im Iran leben müsse. „Wenn sie dir sagen, du sollst zurückgehen, was willst du dann machen?“
Vom iranischen Geflüchteten in Weimar verlangt er Ehrlichkeit und Verschwiegenheit. „Mahdi“ möchte, dass Navari den Kontakt zur iranischen Auslandsopposition aufrechterhält und ihn regelmäßig mit Berichten versorgt. Niemand dürfe etwas davon wissen. Denn wenn herauskäme, dass Navari mit einem iranischen Spion spricht, wäre das für seine Bleibechance in Deutschland fatal. „Wenn jemand davon erfährt, ruinierst du dein Asylverfahren“, droht der Agent.
Hinter dem, was „Mahdi“ mit Navari macht, steckt eine Masche, mit der Irans Geheimdienste Exilanten ins Spionagenetz ziehen: Zunächst übt der Sicherheitsapparat im Heimatland Druck auf Verwandte aus, um einen Kontakt mit Iranern im deutschen und europäischen Exil zu erzwingen. Schon ein kurzer Chat genügt, dann spielen die Agenten die nächste Karte aus. Die Angst, selbst als Spitzel des Regimes verdächtigt zu werden und dadurch den Asylschutz oder den Aufenthaltsstatus in Deutschland zu verlieren. Viele der Erpressten wagen nicht einmal den Gang zur Polizei. Wer in die Falle tappt und Informationen liefert, gilt im Geheimdienstjargon als „Wegwerf-Agent“.
Breit ausgelegte Ausspähkampagne
Es sind vor allem iranische Oppositionsorganisationen selbst, die solche Fälle systematisch dokumentieren. Javad Dabiran, Sprecher des Nationalen Widerstandsrats Iran (NWRI), sagt, er habe selbst bereits 97 solcher Fälle protokolliert. Der NWRI ist ein Zusammenschluss iranischer Oppositionsorganisationen, wobei die sogenannten Volksmudschahedin seine Struktur maßgeblich prägen. Das Exil-Bündnis versteht sich als politische Plattform für einen regimekritischen Kurs. Ihm wird jedoch von anderen Teilen der iranischen Opposition ein zentralistisch hierarchischer Führungsstil vorgeworfen.
Dabiran sagt: „Die Vielzahl von Berichten, die wir vor allem im Jahr 2025 aus verschiedenen Teilen Deutschlands erhalten haben, zeigt eine beispiellose Intensivierung dieser Kampagne.“ Das Ziel sei es, die Exil-Iraner durch Einschüchterung dazu zu bringen, ihr politisches Engagement im Ausland einzustellen, und sie anschließend zur Spionage zu nötigen. In Deutschland leben rund 320.000 Exil-Iraner.
Auf Nachfrage bestätigt der Verfassungsschutz die intensiven Geheimdienstaktivitäten Teherans in Deutschland. Eine detaillierte Auskunft über aktuelle Zahlen erteilt der BfV jedoch nicht.
Laut dem BfV gilt das gesamte Spektrum der Auslandsopposition als Ziel. Dennoch seien Organisationen wie der NWRI „durch Demonstrationen gegen die iranische Regierung und Aktivitäten im politischen Raum in herausgehobener Weise öffentlich exponiert“ und folglich stärker im Fokus solcher Ausspähungen.
Auf Anfrage teilte der Verfassungsschutz mit: „Es ist davon auszugehen, dass iranische Nachrichtendienste die Interessen der Führung des Landes derzeit wie auch künftig mit Hochdruck – auch durch den Einsatz staatsterroristischer Mittel – verfolgen werden.“
Recherchebefunde zeigen niederschwellige Strategien
WELT hat Einsicht in mehrere dokumentierte Fälle erhalten und deren Echtheit verifizieren können. Einige der geschilderten Details wurden leicht verändert, darunter Namen und Orte, um Betroffene nicht in Gefahr zu bringen. „In vielen Fällen nehmen die Geheimdienstler die im Iran lebendenden Verwandten fest, konfiszieren ihre Handys und kontaktieren die in Deutschland lebenden Menschen“, sagt Dabiran.
In anderen Fällen werden Exil-Iraner direkt von anonymen europäischen oder iranischen Nummern kontaktiert – per Anruf oder WhatsApp. WELT hat ein Dutzend dieser Nummern untersucht.
Die WhatsApp-Nummer, hinter der sich „Mahdi“ verbirgt, taucht in fünf voneinander unabhängigen Fällen auf – jedes Mal unter einem anderen Pseudonym. Das Repertoire von „Mahdi“ reicht dabei hin zu Drohungen mit sexueller Gewalt. WELT konnte mehrere Profile in den sozialen Medien identifizieren, über die sich der Spion mit oppositionellen Exil-Iranern vernetzt hat. Auf den Social-Media-Plattformen gibt er sich als Immobilienmakler aus.
Auf seinem Profilbild sitzt der schätzungsweise etwa 50-jährige Mann in einem geschäftigen Büro – umgeben von Zeitungen, Monitoren und Akten. Im Hintergrund lehnen zwei Männer über Telefonen und Bildschirmen, vertieft in ihre Arbeit. „Mahdi“ blickt direkt in die Kamera, der Gesichtsausdruck ruhig, unter einem dichten weißen Schnurrbart. Auf einem weiteren Foto posiert er vor einer Berghütte, mit Rucksack und Wanderkleidung. Eine alltägliche Identität, die harmlos wirkt – eine Tarnung?
„Transnationale Repression“
Die Operation des Geheimdiensts im Ausland fällt in eine Zeit der zunehmenden Repression des iranischen Regimes im Inland. Der Iran erlebt derzeit eine massive Hinrichtungswelle, die ein neues Niveau staatlicher Brutalität zeigt. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres hat die Islamische Republik mehr als 1000 Menschen exekutiert. So viele Hinrichtungen in einem einzelnen Jahr gab es seit den 1990er-Jahren nicht mehr.
Laut Dabiran stehen 17 politische Gefangene aufgrund von Zusammenarbeit mit dem NWRI in akuter Hinrichtungsgefahr. „Wir erleben auch Schauprozesse, in denen selbst die Teilnahme an Veranstaltungen in Europa als ‚Gotteslästerung‘ diffamiert und mit dem Tod gedroht wird. Ein Versuch, transnationale Repression sogar juristisch zu legitimieren.“
Einen Wendepunkt zu mehr staatlicher Repression markierten die israelisch-amerikanischen Angriffe auf das iranische Atomprogramm im Juni. Ein neues Gesetz weitete die Straftat der Spionage aus. Spionage war bereits ein Kapitalverbrechen. Mit dem neuen Gesetz kann sogar allein der Kontakt zu ausländischen oder exiliranischen Medien als Spionage eingestuft werden.
Bereits im August dokumentierte eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen, dass iranische Behörden Journalisten systematisch Spionagevorwürfe andichten. Die Kommission äußerte Sorge um das Leben und die Sicherheit von 45 Journalisten und ihren Familienangehörigen, die glaubwürdige Drohungen erhalten hatten. Die Betroffenen leben nach Angaben der Kommission in sieben Exilländern, darunter auch Deutschland.
Angst wird dabei ihr ständiger Begleiter. Im Fall Navari meldete die Familie den Vorfall bei der Polizei, die laut Verfassungsschutz „stets zeitnah“ über nötige Schutzmaßnahmen unterrichtet wird. Während besser ausgestattete Dienststellen Sicherheitsbriefings, Präventionshinweise und direkte Notfallkontakte anbieten, berichten Betroffene in abgelegenen Regionen teils von weniger ergiebigen Gesprächen – bis hin zur vollständigen Abweisung.
Manch einer bekomme zu hören: Die Polizei könnte nicht aktiv werden, bevor etwas passiert sei.
