NWRI- Das Klerikerregime im Iran steht vor einem weiteren sichtbaren Bruch an der Spitze. Die stille Absetzung von Mohammad-Reza Naqdi als stellvertretender Koordinator der Revolutionsgarden hat in den staatlich kontrollierten Medien Spekulationen darüber ausgelöst, warum einer der loyalsten und langjährigsten Sicherheitsbeamten entlassen wurde. Dieser Wechsel erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem hochrangige Politiker immer direktere Anschuldigungen austauschen und die staatlichen Medien offen vor zunehmenden Spaltungen innerhalb des herrschenden Establishments warnen.
Ein Bericht der staatlichen Zeitung Fararu vom 28. Oktober enthüllte , dass der Führungswechsel in den Revolutionsgarden (IRGC) bereits mindestens einen Monat zuvor stattgefunden hatte, jedoch weder offiziell bekanntgegeben noch mit der üblichen öffentlichen Zeremonie begleitet wurde. Auf der offiziellen Website der IRGC wurde Hojjatollah Qureyshi schon im September als stellvertretender Koordinator bezeichnet, während die staatlichen Medien Naqdi noch bis zum 20. Oktober mit seinem früheren Titel vorstellten. Die verzögerte Anerkennung, die widersprüchlichen internen Bezeichnungen und das Fehlen einer formellen Übergabe unterstreichen, dass der Übergang nicht unter normalen Bedingungen stattfand. Fararu merkte an, dass nach dem Tod des ehemaligen IRGC-Kommandeurs Hossein Salami und der Ernennung von Mohammad Pakpour zu seinem Nachfolger mehrere Umstrukturierungen des Kommandos zu erwarten waren – doch die undurchsichtige Vorgehensweise bei Naqdis Absetzung deutet eher auf interne Empfindlichkeiten als auf eine routinemäßige Umbesetzung hin.
Stille Entfernung wirft Fragen auf
Dieser Schritt erfolgte nur wenige Tage, nachdem Ali Larijani eine handschriftliche Anweisung an die Leiter großer Medienorganisationen gerichtet hatte. In dem Ende Oktober datierten Schreiben betonte er die „kritische Lage“ des Systems und wies die Redakteure an, sich an der von ihm so genannten „Stärkung der Streitkräfte“ zu beteiligen. Insider interpretierten die Nachricht im Kontext des Regimes als Warnung vor vermuteter Infiltration und interner Verwundbarkeit innerhalb der Revolutionsgarden.
Der Zeitpunkt des Briefes und Naqdis Absetzung hat in regimenahen Medien Spekulationen darüber ausgelöst, dass der Wechsel in direktem Zusammenhang mit Bedenken hinsichtlich interner Sicherheitslücken während des jüngsten zwölftägigen regionalen Konflikts steht – einer Zeit, in der mehrere hochrangige operative Mitglieder der Revolutionsgarden abgesetzt oder ins Abseits gedrängt wurden. Das Klerikerregime hat ein „Infiltrationsproblem“ zwar nicht eingeräumt, doch wiederholte Personalwechsel in der Führungsspitze haben es unmöglich gemacht, das Problem innerhalb der eigenen Reihen zu ignorieren.
Fraktionsübergreifende Angriffe in der Öffentlichkeit nehmen zu
Der Führungswechsel fällt zeitlich mit offenen Machtkämpfen hochrangiger Regimevertreter über die Folgen des Atomabkommens, die jüngste regionale Diplomatie und die Ausrichtung der Außenpolitik zusammen. Am 26. Oktober verurteilte Saeed Jalili, der ehemalige Atomverhandler des Regimes und ein enger Vertrauter Ali Khameneis, in einer öffentlichen Rede erneute Annäherungsversuche an den Westen. Er verglich diejenigen, die sich für diplomatische Öffnungen aussprachen, mit jemandem, der „in der Nacht des 11. Februar – dem Tag, an dem die Revolution von 1979 ihren Sieg verkündete – beschloss, sich SAVAK anzuschließen“, ein direkter Vorwurf der Illoyalität.
Unterdessen warnte Parlamentspräsident Mohammad-Bagher Ghalibaf, dass politische Akteure, die „nationale Interessen für parteiinterne Vorteile opfern“, zur Rechenschaft gezogen würden. Die impliziten Ziele waren sowohl der revisionistisch orientierte Block als auch ehemalige Beamte früherer Regierungen.
Die Angriffe erfolgten auf Gegenseitigkeit. Azar Mansouri, Anführer der sogenannten Reformfront, antwortete darauf mit den Worten: „Liyakhov war nicht nur ein Name in der Geschichte“, und bezog sich dabei auf den zaristischen General, der 1908 das iranische Parlament beschoss – ein gezielter Vergleich, der auf extremistische Gruppierungen abzielte, die versuchen, abweichende Meinungen selbst innerhalb loyalistischer Kreise zu unterdrücken.
Pezeshkian räumt interne Probleme ein
Der Präsident des Regimes, Masoud Pezeshkian, griff in Reden am 27. Oktober immer wieder das Thema der Uneinigkeit auf. Er erklärte, ohne innere Einigkeit könne das Land „nicht vorankommen“ und fügte hinzu: „Wenn Uneinigkeit herrscht, redet jeder anders, und das Land stagniert.“
Pezeshkian merkte außerdem an, dass 85 Prozent der staatlichen Ressourcen für Verwaltungskosten aufgewendet werden – ein seltenes Eingeständnis eines amtierenden Präsidenten, dass die Struktur der Regierung selbst die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit behindert.
Als Reaktion darauf warfen Kritiker im Parlament der Regierung vor, keinen operativen Plan zur Bekämpfung der Inflation, der Lebensmittelpreise oder der Marktinstabilität zu haben. Ein Abgeordneter erklärte am 26. Oktober: „Was ist Ihr Programm? Wir sehen kein Programm.“
Ein anderer warnte davor, dass die gegenwärtigen Härten für Familien „nicht durch Appelle an Geduld oder Einigkeit gerechtfertigt werden können“.
Verwundbarkeit und Erinnerung an vergangene Krisen
Die internen Machtkämpfe haben Kommentare von Persönlichkeiten wieder aufleben lassen, die sich lange Zeit aus der öffentlichen Debatte zurückgezogen hatten. Der ehemalige Parlamentspräsident Ali-Akbar Nategh-Nouri erklärte am 27. Oktober, der Druck und die politische Gewalt der 1980er Jahre hätten ihn „an den Rand einer Depression“ gebracht. Seine Äußerungen ließen implizit die Befürchtung des Regimes aufkommen: dass sich das interne Klima von Fraktionskämpfen hin zu einer umfassenderen Instabilität verlagern könnte.
Das Zusammentreffen dieser Entwicklungen – die stille Umstrukturierung des Kommandos der Revolutionsgarden, öffentliche Angriffe zwischen den Fraktionen und wiederholte Aufrufe zur Einheit sowohl von extremistischen als auch von revisionistischen Figuren – deutet auf ein Regierungssystem hin, das zunehmend nicht mehr in der Lage ist, seinen eigenen inneren Zusammenhalt zu wahren.
Die Ungewissheit um Naqdis Absetzung unterstreicht das tieferliegende Problem. Ob sie nun auf den Verdacht der Infiltration innerhalb der Revolutionsgarden oder auf Machtkämpfe auf höchster Ebene zurückzuführen ist, die Konsequenz bleibt dieselbe: Das Regime agiert defensiv, reorganisiert sich nach innen und betrachtet interne Akteure als Risiko. Dieser Kurswechsel erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem das Klerikerestablishment gleichzeitig unter dem Druck des wirtschaftlichen Niedergangs, der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Lebensstandard und des schwindenden regionalen Einflusses steht. In diesem Umfeld gewinnen selbst routinemäßige Kommandowechsel an politischer Bedeutung. Das System wirkt nicht länger kohärent; es agiert selbst als Sicherheitsbedrohung.
